Warum neurodivergente Menschen in ruhigen Momenten erst richtig „hochfahren“
Neurodivergente Kinder können herausfordernd sein. Manches Mal fallen sie auf durch ihre Unruhe, unwillkürliche laute Geräusche oder ständiges Reden, oder die Angewohnheit, mit Gegenständen zu spielen und dabei einen permanenten Geräuschpegel entstehen zu lassen.
Oft sieht man ihnen dann die Überforderung regelrecht an und der erste Impuls ist: Ein bisschen Ruhe täte jetzt gut. Achtsamkeit, Meditation oder ein beruhigendes Hörspiel. Und dann passiert das Gegenteil. Die Kinder werden lauter, hibbeliger, fahriger.
In meinen Beratungen kommt dann fast immer dieselbe Frage. Ich dachte, ich tue meinem Kind etwas Gutes, Achtsamkeit, Yoga und Meditation sollen doch helfen, und jetzt das. Was mache ich falsch.
Die Antwort ist: Du machst nichts falsch.
Stille ist nur dann beruhigend, wenn das Nervensystem in dieser Stille Halt findet. Und das gilt für alle Menschen. Für viele neurodivergente Menschen bedeutet jedoch Ruhe im Außen, dass es im Inneren erst richtig laut wird. Der Strom an Gedanken und Empfindungen wird stärker, statt leiser. Der Körper sucht nach einem Ausgleich, der nicht da ist. Das, was uns guttun soll, bringt bei ihnen das System erst richtig in Alarm. Meditation und Ruhe werden dann plötzlich Kampf statt Werkzeug.
Kinder zeigen es laut. Erwachsene verbergen es oft länger. Bis sie es nicht mehr können. Das plötzliche Genervtsein, der abrupte Abbruch eines Treffens, das schnelle Aufbrechen nach einer Party. Von außen wirkt es manchmal unhöflich, launenhaft oder unzuverlässig. Doch im Inneren passiert etwas ganz anderes. Reize sammeln sich an, jede Minute wird schwerer und das Nervensystem schreit nach Pause. Der Rückzug ist kein Weglaufen oder Ablehnung.
Es ist Regulation. Eine letzte Rettung, bevor es kippt.
Wenn es im Außen ruhig wird, fehlt bei vielen der innere Anker. Kein Geräusch, kein Rhythmus, nichts, woran sich die Aufmerksamkeit festhalten kann. Stille fühlt sich dann nicht an wie Entspannung, sondern wie ein Fall ins Bodenlose.
Es ist ein Missverständnis zu denken, Ruhe sei immer für jeden gut.
Innere Ruhe ist eben manchmal auch, die Erlaubnis, nicht ruhig zu sein. Ein knackiger Spaziergang, eine Runde über den Spielplatz, springen, wippen, singen, ein kleiner Rhythmus mit den Fingern. All das kann helfen, das innere Chaos zu sortieren. Bewegung wird zu Sicherheit. Geräusche werden zu Orientierung. Erst wenn diese Regulation gelingt, kann Stille überhaupt wirken.
Ein noch größeres Missverständnis ist, dass neurodivergente Menschen „nicht wollen“.
Sie wollen dazugehören. Sie wollen bleiben. Sie wollen mitmachen. Aber ihr Nervensystem arbeitet anders. Und diese Andersartigkeit bleibt oft unsichtbar. Zappeln, Reden, Rückzug – all das wird bewertet, statt verstanden.
Was wie Trotz aussieht, ist oft Überforderung. Was wie Unkonzentriertheit wirkt, ist Selbstschutz. Was wie Desinteresse erscheint, ist eigentlich ein verzweifeltes „Ich kann gerade nicht mehr“.
Der erste Schritt ist also nicht, Verhalten zu ändern. Sondern zu verstehen, was dahintersteckt. Was Neurodivergenz wirklich bedeutet. Wie sich das anfühlt. Und was wir tun können, um wirklich zu unterstützen. Nicht mit Forderungen nach Ruhe. Sondern mit Sicherheit, Orientierung und Verbindung. Im eigenen Tempo. Mit dem Nervensystem als Partner statt als Gegner.
Das andere Gehirn
Genau darum geht es in meinem Kurs „Das andere Gehirn“, entstanden in Kooperation mit Herzsache. Wir schauen gemeinsam darauf, wie neurodivergente Menschen wahrnehmen, denken, fühlen und reagieren. Wir geben dem Unsichtbaren Worte und öffnen einen Raum, in dem Unterstützung neu gedacht werden kann, mit praktischen Ideen, die sofort umgesetzt werden können. Für Eltern, für Pädagog:innen, für alle, die begleiten und verstehen möchten.
Denn jedes Gehirn verdient Wege, die zu ihm passen.
Und jede Familie verdient das Wissen, wie das gelingen kann.
Gastautorin Nina Roosen
Als selbst neurodivergente Mutter von drei Kindern mit unterschiedlichen Diagnosen kenne ich die Herausforderungen und Facetten der Neurodivergenz aus erster Hand. Meine persönliche Erfahrung verbindet sich mit über 20 Jahren beruflicher Praxis als Coach, Achtsamkeitstrainerin, Kinesiologin und Cognitive Behaviour Trainerin. Diese Expertise ermöglicht es mir, sowohl Eltern als auch Lehrkräften, Pflegeeltern und anderen Bezugspersonen praxisnahe Unterstützung und Inspiration zu bieten.
Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder Mensch ein einzigartiges Potenzial in sich trägt, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Oft sind es die kleinen Schritte, die große Veränderungen bewirken können – für neurodivergente Kinder, ihre Familien und auch für das gesamte soziale Umfeld. Meine Arbeit ist geprägt von der Vision, eine inklusivere Welt zu schaffen, in der jeder Mensch die Chance hat, sich auf seine ganz eigene Weise zu entfalten.
Coach, Expertin und Wegbegleiterin






