Ein Tag am Meer. Kreidefelsenstücke, die man toll bearbeiten kann. Meine Tochter läuft konzentriert und lange den Strand entlang, um Werkzeuge für ihre große Aufgabe des Tages zu finden. Sie werkelt in liebevoller Kleinstarbeit ein Herz. Über 1 Stunde lang hat sie gerieben, gehauen, und alles liebevoll und mit größter Mühe so gestaltet, dass sie am Schluss wahnsinnig stolz und glücklich über ihr Werk ist. Dieses wunderschöne Herz schenkt sie dann ihrer geliebten Oma. Nur ein paar Momente später lässt ihre kleine Schwester dieses Herz fallen und ein Stück des Herzens bricht ab.
Schreck.
Riesengroße Traurigkeit.
Wut.
Ärger.
Von allen Seiten Versuche die Künstlerin zu trösten. “Das ist doch nicht so schlimm.” “Das kann man wieder anders machen.”
Nichts nützt. Denn, was sie eigentlich braucht, ist: Raum, in dem diese Traurigkeit und diese Wut sein darf. Ein Raum, in dem die Gefühle, die der kleine Unfall verursacht hat, sein dürfen. Ich setze mich also zu ihr, und sage so etwas wie: das kann ich mir gut vorstellen, dass du jetzt traurig und wütend bist. Die Tränen fließen. Sie dürfen ungehindert fließen. Sie sagt ein paar wütende Sätze. Laut und wütend und eingeladen. Dann wieder Tränen.
Das ganze dauert nur ein paar Minuten.
Ein paar Minuten in denen die Gefühle einen Raum bekommen, gesehen werden und dann wieder gehen dürfen. Ich muss nichts anderes tun, als dazusitzen und diesen Raum zu halten. Den Rest macht sie allein. Immer wieder ertappe ich mich, wie ich versuchen möchte, etwas Tröstliches zu sagen. Das Gefühl irgendwie loszuwerden. Aber nach einer Weile, merke ich die Veränderungen an ihr und an mir. Diese Erfahrung ist wunderbar.
Meine offenen Arme biete ich ihr natürlich die ganze Zeit an,
aber dränge ihr nicht meinen Tröstewunsch auf, um meine Ohnmacht zu befrieden. Irgendwann kommt sie dann von sich aus zu mir, so, dass die letzten Tränen in meinen Schoß fallen dürfen, um Kraft zu sammeln, um sich dann neugierig und gestärkt in das nächste Abenteuer ihres Lebens zu stürzen. Weiter gehts! Mit dieser Erfahrung ist traurig sein gar nicht so schlimm, denn wir erfahren ja, dass das Gefühl eben in seiner ganzen Wucht da ist und dann auch wieder geht. Wie ein Besucher der auf einen Sprung vorbei kommt.
MIT dem Leben und nicht dagegen.
Nicht um das Gefühl herum oder an ihnen vorbei, sondern mitten durch. In der Achtsamkeitspraxis trainieren wir uns darin, nicht wegzuschauen oder wegzulaufen, sondern hinzublicken und zuzulassen. Ein Workout für unser Gehirn sozusagen.
Gefühle haben zu dürfen, macht es für alle entspannter.
Sie darf sein, ich muss nichts machen. Hab Vertrauen in deine Kinder. Hab Vertrauen in die Gefühle deiner Kinder. Und versuche dem Gefühl zu widerstehen, etwas verändern zu müssen. Halte den Schmerz, dein Kind so zu sehen, aus, denn dann wird er schnell vorrübergehen.
Das ist anders. Das ist ungewohnt. Aber es hilft.
Das Gasthaus ist ein Gedicht des persischen Sufi-Mystikers Rumi aus dem 13. Jahrhundert. Es ist gleichzeitig eine Metapher für den Umgang mit unseren Gefühlen. Ich lese es den Kindern in meinen AGs vor, wenn wir das Thema Gefühle besprechen. Seine Kernbotschaft ist die der Achtsamkeit: Sei mit dem, was das Leben uns gerade bringt, ganz gleich ob es sich um Freude oder große Schwierigkeiten handelt.
Rumi – Das Gasthaus
Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Freude, Depression und Niedertracht –
auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit
kommt als unverhoffter Besucher.
Begrüße und bewirte sie alle!
Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist
die gewaltsam dein Haus
seiner Möbel entledigt.
Selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll
vielleicht reinigt er Dich ja
für neue Wonnen.
Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –
begegne ihnen lachend an der Tür
und lade sie zu dir ein.
Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn alle sind zu Deiner Führung geschickt worden
aus einer anderen Welt.
Rumi ermutigt uns, uns dem zu öffnen, was das Leben uns bringt. Und genau das möchte ich auch dir ans Herz legen. Gehe mit dem, was ist, schon bei den Kindern. Denn was auch immer das Leben auf uns wirft, diese Haltung erlaubt es uns, weiser, freundlicher und mitfühlender zu uns selbst und anderen zu werden. Und unseren Kindern genau das beizubringen.
Liebe,
Tina